Ein Referenzschreiben für die Einbürgerung

Ein Referenzschreiben für die Einbürgerung

Vor Kurzem wurde ich angefragt, für eine Freundin ein Referenzschreiben für ihre Einbürgerung zu erstellen. Dies habe ich natürlich sehr gerne gemacht und zugesagt. An Allerheiligen um 6 Uhr früh überkommt mich die Muse und ich beginne zu schreiben.

Nach der Einleitung geht es dann ums Eingemachte, aber auf einmal fällt es mir schwer, weiter zu machen. Es fühlt sich komisch an, diese Worte niederzuschreiben. Über diese Person, die ich schon so lange kenne und sehr schätze, eine Empfehlung zu verfassen und zu beweisen, dass es sich um einen „guten Menschen“ handelt. Welche Chraktereigenschaften soll ich nennen? Welche Attribute sind gefragt? Anständig? Gesetzestreu? Vertrauenswürdig? Berufstätig? Ortskundig? Wohlhabend? Zuverlässig?

Während ich über alle die Eigenschaften meiner Freundin nachdenke, erinnere ich mich an unsere gemeinsamen Erlebnisse. Ich sehe sie mit dem orangen Kindergarten-Bändel beim Fussgängerstreifen warten. Ich erinnere mich an etliche Mittwochnachmittage bei ihrer Familie zu Hause und wie ihre Eltern uns immer grosszügige Zvieri aufgetischt haben. Ich sehe uns als Teenager, wie wir ach so „cool“ waren und versucht haben, unsere Gspändli zu beeindrucken. Ich erinnere mich an ihre KV-Lehre und ihren ersten Job in einem Treuhandbüro oder wie wir jubelnd den Spengler Cup genossen haben. Und ich sehe sie heute mit ihrem Partner die Welt erkunden.

Ich möchte weiterschreiben, aber meine Gedanken schweifen ab: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen mir und ihr? Ok, bei mir wurde der rote Pass mit der Geburt gratis dazugeliefert, weil meine Eltern Schweizer sind, aber habe ich eigentlich irgendetwas anders gemacht als sie? Nein. Habe ich eine andere Schulbildung als sie? Nein. Spreche ich besser Deutsch als sie? Nein. Habe ich einen besseren Job als sie? Nein. Bin ich ein besserer Mensch als sie? Nein. Wir beide sind hier geboren, zur Schule gegangen, haben einen Beruf gelernt, uns im gleichen Umfeld bewegt, Steuern bezahlt und uns ein gutes Leben aufgebaut. Aus welchem sachlichen Grund also hätte meine Freundin das Schweizer Bürgerrecht weniger verdient als ich? Es gibt keinen.

Das Ganze befremdet mich, es fühlt sich unfair an. Ich möchte am liebsten gar nicht mehr weiterschreiben. Aber natürlich schreibe ich ein positives Referenzschreiben für meine Freundin, denn sie ist eine grossartige Person und sie hat das Schweizer Bürgerrecht genauso verdient wie ich. Dafür verbürge ich mich. Entgegen allen rassistischen Vorurteilen, welche überhaupt der Grund sind, warum ich an Allerheiligen morgens um 6 Uhr ein Referenzschreiben verfasse.


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